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Stadtradio Sangerhausen Das Webradio unserer Stadt
Es ist Sonntag, der 2. November 2025. Draußen liegt ein graues Licht über den Straßen, das irgendwie nach Ruhe riecht. Der Wind hat in der Nacht die letzten goldenen Blätter von den Bäumen gefegt, und jetzt kleben sie nass an den Pflastersteinen, als wollten sie noch ein bisschen bleiben, bevor der Winter kommt. Ich sitze mit einer Tasse Kaffee am Fenster, höre das leise Tropfen des Regens, und denke: Es gibt kaum einen Tag, der sich mehr nach Zwischenzeit anfühlt als dieser. Der November hat gerade erst begonnen – und doch ist schon so viel vergangen in diesem Jahr.
Ich merke, wie still dieser Sonntag ist. Kein lautes Auto, kein Kindergeschrei vom Spielplatz, selbst die Nachbarn scheinen heute zu schlafen. Nur die Uhr tickt, regelmäßig, zuverlässig, fast tröstlich. Es ist dieser Rhythmus, der mich daran erinnert, dass alles vergeht – und dass gerade im Vergehen manchmal die größte Schönheit liegt.
Der November hat immer etwas von einem Atemholen. Er ist kein lauter Monat, keiner, der sich in den Vordergrund drängt. Er ist ein Monat, der zuhört. Nach dem bunten Aufblühen des Oktobers wird alles leiser, feiner, ehrlicher. Die Farben verblassen, die Tage werden kürzer, die Luft klarer. Es ist, als würde die Welt sich selbst zuhören, als würde sie die Stimme der Stille wiederfinden. Und vielleicht ist das genau das, was wir Menschen in dieser Zeit auch brauchen: einen Moment, um still zu werden – um uns selbst zuzuhören, ohne all die Geräusche, die das Leben sonst so laut machen.
Ich erinnere mich, wie ich als Kind den November nicht mochte. Er war grau, nass, kalt. Ich wollte Sommer, Sonne, Leben. Ich wollte draußen sein, rennen, lachen, laut sein. Der November war der Monat, in dem man drinnen bleiben musste, in dem die Tage früh endeten und man sich nach Licht sehnte. Und heute – Jahrzehnte später – ist es genau diese Dunkelheit, die mir Frieden schenkt. Vielleicht, weil ich gelernt habe, dass die Welt nicht immer hell sein muss, damit sie schön ist.
Manchmal denke ich, der November ist wie ein ehrlicher Freund. Einer, der einem nichts vormacht. Er sagt: „So sieht das Leben eben aus, wenn du den Glanz mal abstreifst.“ Kein Sommerkleid, kein Feuerwerk, keine großen Versprechen. Nur das, was bleibt, wenn alles andere gegangen ist. Und das ist oft mehr, als man denkt: ein Dach über dem Kopf, ein warmes Licht, ein Gedanke, der sich beim Hören eines Liedes ganz leise ins Herz schleicht.
Heute, am 2.n November, spüre ich besonders stark diese Mischung aus Melancholie und Dankbarkeit. Vielleicht, weil das Jahr sich langsam dem Ende zuneigt. Vielleicht, weil die Tage kürzer werden und man spürt, dass Zeit etwas Kostbares ist. Man beginnt zu zählen – nicht die Tage, die kommen, sondern die, die man schon hatte. Und man merkt, wie viel sich verändert hat, ohne dass man es richtig bemerkt hat. Menschen sind gekommen, andere gegangen. Dinge, die einmal wichtig waren, sind leiser geworden. Und anderes, das man kaum beachtet hat, hat plötzlich Gewicht bekommen.
Ich habe in diesem Jahr viel über das Loslassen nachgedacht. Nicht nur über das Loslassen von Dingen, sondern auch von Erwartungen. Von der Vorstellung, dass alles immer besser, schneller, heller werden muss. Vielleicht ist das die eigentliche Lektion des Herbstes: dass man nicht immer mehr haben muss, um erfüllt zu sein. Manchmal reicht es, dazusitzen, zu atmen, und zu wissen: Es ist genug. Du bist genug.
Wenn ich jetzt hinausschaue, sehe ich, wie der Regen feine Kreise auf die Pfützen malt. Es ist fast meditativ. Der Himmel ist schwer, aber nicht bedrohlich. Eher wie eine Decke, die sich über alles legt. Ich denke an all die Jahre, die hinter mir liegen, und frage mich, wie viele Sonntage ich wohl schon so verbracht habe – in Gedanken, in Stille, mit einem Kaffee in der Hand. Und ich merke, dass genau diese kleinen, unscheinbaren Momente oft die sind, die bleiben. Nicht die großen Tage, nicht die Meilensteine, sondern die stillen Augenblicke dazwischen, in denen man einfach nur ist.
Vielleicht ist das die Kunst, die wir im Laufe des Lebens lernen müssen: das einfache Sein. Nicht das Streben, nicht das Vergleichen, nicht das Warten auf etwas, das vielleicht nie kommt. Sondern dieses ruhige Akzeptieren, dass jetzt gerade alles da ist, was man braucht. Der November lädt dazu ein. Er zwingt uns fast dazu. Draußen wird es kalt, das Licht wird knapp, und wir suchen Wärme – nicht nur körperlich, sondern auch seelisch. Wir zünden Kerzen an, kochen Suppe, schreiben Nachrichten an Menschen, von denen wir lange nichts gehört haben. Wir werden langsamer, aber nicht schwächer. Nur ehrlicher.
Ich denke oft, dass der November ein Monat der Erinnerung ist. Kein Zufall, dass Allerheiligen und Allerseelen in diese Zeit fallen. Es ist der Monat, in dem wir an die denken, die nicht mehr hier sind. Aber es geht nicht nur um Trauer – es geht auch um Verbundenheit. Um das stille Bewusstsein, dass wir Teil einer Geschichte sind, die weitergeht, auch wenn einzelne Kapitel enden. Wenn ich an Menschen denke, die gegangen sind, dann spüre ich, dass sie in diesen stillen Tagen näher sind als sonst. Vielleicht, weil die Welt selbst still genug ist, um sie zu hören.
Und dann frage ich mich: Wie möchte ich selbst einmal erinnert werden? Nicht in großen Worten oder Denkmälern – das interessiert mich nicht. Sondern in den kleinen Dingen. Vielleicht, dass jemand sagt: „Er hat zugehört.“ Oder: „Er hat sich Zeit genommen.“ Vielleicht ist das genug. Vielleicht ist das alles, was zählt.
Ich nehme noch einen Schluck Kaffee, und der Dampf beschlägt die Fensterscheibe. Draußen fliegt ein einzelnes Blatt vorbei, taumelnd, fast tanzend. Und ich denke: Dieses Blatt weiß nichts von Eile. Es fällt einfach. Es kämpft nicht gegen den Wind. Es vertraut darauf, dass der Boden es auffängt. Vielleicht sollten wir alle ein bisschen mehr so sein wie dieses Blatt.
Der November lehrt uns, dass Schönheit nicht laut sein muss. Sie liegt in der Vergänglichkeit, in der Veränderung, im Abschied. Aber auch im Neubeginn, der schon irgendwo unter der Erde schlummert. Denn während wir die kahlen Äste sehen, bereitet sich die Natur längst auf das nächste Erwachen vor. Alles, was ruht, sammelt Kraft. Vielleicht gilt das auch für uns.
So sitze ich hier, an diesem grauen Sonntag, und denke: Vielleicht ist das Leben gar nicht so kompliziert. Vielleicht müssen wir nur lernen, die leisen Töne zu hören. Die, die uns daran erinnern, dass jeder Tag ein Geschenk ist – auch ein nasser, kühler, unscheinbarer Novembertag.
Und vielleicht, wenn wir irgendwann zurückblicken, werden genau diese Tage die sein, die uns zeigen, dass wir wirklich gelebt haben.
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